Ich sitze im Wohnzimmer und überlege, ob ich direkt den Krankenwagen rufe, erst meine Eltern anrufen, die gerade im Urlaub sind, oder dich. Weil ich weiß, dass du gerade erreichbar wärst.
Ich sitze hier und habe Atemnot. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Ich möchte nicht alleine sein und ich weiß dass ich in diesem Moment Hilfe brauche. Doch genau so möchte ich dich, liebe große Schwester, nicht schon wieder anrufen. Nicht schon wieder aus deinem Leben reißen, schon wieder dich dazu zwingen dein Leben zu pausieren, weil es mir nicht gut geht. Also rufe ich ein Taxi und fahre alleine in die Notaufnahme.
Eine Krankheit, wie die meine, beeinflusst nicht nur mich, sondern mein gesamtes Konstrukt Familie. Meine Eltern genauso, wie meine Geschwister. Und während im Normalfall die Eltern auf ihr Kind aufpassen, bis sie so alt sind, dass die Kinder auf sie aufpassen, müssen oft die Geschwisterkinder des kranken Kindes schneller erwachsen werden, einfach weil sie schon früh mit Themen konfrontiert werden, die viel Verantwortung mit sich ziehen.
In einigen Bereichen, wird von diesen Geschwisterkindern als „Schattenkinder“ berichtet, weil ein krankes Kind oftmals viel Aufmerksamkeit und Pflege braucht und auch viel Zeit der Eltern in Anspruch nimmt, wenn es um Termine und Krankenhausaufenthalte geht. Die gesunden Geschwisterkinder müssen so einiges zurückstecken.
Ich selbst bin mit Geschwistern aufgewachsen und habe auch schon viele Geschwisterkinder getroffen. So ist dieser Artikel entstanden:
Was ich von Geschwisterkindern lernen durfte und was sie sich gerne wünschen.
1. Wir sind eine Familie
Es ist keine Frage, dass Dinge, die wir im Krankenhaus erleben nicht gerade schön sind. Es ist keine Frage, dass stundenlanges Warten und Ausharren und Bangen nicht kräftezehrend ist. Und ich denke auch, dass die Krankheit und all die Gefühle, die damit einhergehen, seinen Platz im Leben jedes Familienmitgliedes brauchen.
Doch genau so, denke ich, dass auch die schönen Dinge, das Leben und Lebensfreude genau gleichwertig, wenn nicht höher gestellt seinen Platz braucht. Dadurch, dass ich mit Geschwistern aufgewachsen bin, war meine Krankheit zwar allgegenwärtig, aber nie das Wichtigste. Denn unsere Leben bestehen eben aus so viel mehr als aus meiner Krankheit. Jedes Familienmitglied hat auch seinen eigenen Platz, seine eigenen Pläne, Ziele und Träume. So bin ich meiner Familie sehr dankbar, dass ich meine Geschwister habe, weil sich eben nicht ständig alles um meine Erkrankung dreht. Je mehr Leben im Haus ist, desto mehr Liebe und Lachen erklingt in den Räumen. Und genau dafür bin ich sehr dankbar.
Wir sind eine Familie und auch wenn wir alle gleich sind, sind wir doch individuell. Jeder von uns bringt seine eigene Geschichte und seinen eigenen Charakter mit. Und auch wenn wir uns alle gegenseitig gleich behandeln wollen, ist es schwierig, weil die Krankheit mich eben doch anders macht. Es ist schwierig für Eltern alle Kinder individuell und doch gleich zu erziehen und es ist schwierig mit den erkrankten Geschwisterchen doch so anders umzugehen, als mit dem gesunden. Weil die Einschränkungen, die da sind, eben nicht einfach von der Hand zu weisen sind. Aber nur weil es manchmal schwierig ist, ist es nicht unmöglich. Schließlich bin ich mehr als meine Einschränkungen, als meine Behinderung, als meine Erkrankung.
Alles Gute und alles Schlechte macht unsere Familie zu dem, was sie heute ist. Und so ist es schwer vorstellbar, wie es wäre, wenn ich doch gesund wäre, weil alles, was meine Krankheit mit sich bringt, für uns heute so normal ist.
Ich denke, dass wenn eine Familie es schafft, die Krankheit konstruktiv anzunehmen, diese noch viel enger zusammenwächst. Und all diese Dinge, die für uns so normal sind, sind für Außenstehende doch so anders, dass sie oft für uns so normale Aspekte nicht verstehen können. Wenn man mit einem kranken Geschwisterchen aufwächst bekommen so Themen wie Verantwortung, Geburtstage und Zeit eine andere Wertigkeit. Diese Kinder werden schon früh mit Themen konfrontiert, von denen sie erst später erfahren sollten und so sind sie quasi gezwungen schneller erwachsen zu werden. Und genauso sind sie gezwungen, Wege zu finden, mit diesen schwierigen Themen umzugehen. Ich persönlich setze der Trauer und dem Tod viel Humor entgegen. Und ich kann verstehen, dass für Menschen, bei denen Themen wie Sterben, Diskriminierung und Behinderung nicht auf dem täglichen Speiseplan stehen, mein Umgang damit merkwürdig ist. Doch ich muss mit meinem Leben und den Themen, mit denen mich mein Leben konfrontiert klarkommen. Und ich denke, dass es bei den Geschwisterkindern ähnlich ist.
Erst durch den Kontakt zu anderen Kindern, z.B. in der Schule, wird so klar, dass viele für uns so normale Dinge, doch nicht so normal sind. Also ist es ein Balanceakt, für alle Mitglieder einer solchen Familie, sich immer richtig zu positionieren, damit es einem selbst in jeder sozialen Rolle gut geht.
2. Das Band zwischen euch und den Eltern
Ich werde es nie nachvollziehen können, wie es ist mit einem kranken Geschwisterchen aufzuwachsen. Ich weiß nur, wie es ist, die zu sein, die anders ist. Und ich kann versuchen zu verstehen, wie es euch geht.
Ich kann verstehen, dass Ihr unsere Eltern vermisst, wenn sie tagelang mit mir im Krankenhaus sind. Dass ihr nicht versteht, warum sie mich nicht einmal mal alleine lassen können, damit ihr mehr Zeit mit ihnen habt. Und ich wünsche mir sehr, dass ihr eines Tages verstehen werdet, dass sich unsere Eltern auch am liebsten in Stücke teilen würden, weil auch sie kein Kind vernachlässigen wollen. Weil auch sie, an allen Orten gleichzeitig sein wollen. Doch das geht leider nicht immer. Und so handeln sie nach bestem Wissen und Gewissen, um möglichst allen anderen, aber nicht sich selbst gerecht werden zu können, während sie wissen, dass sie das nie werden. Keiner von uns, auch ich nicht, kann wie es sich anfühlt, innerlich so zerrissen zu sein, während man versucht, unter einem enormen Stresslevel alles unter einen Hut zu bringen. Während man allen versucht gerecht zu werden und alle Kinder versucht individuell und doch gleich zu behandeln. Ich werde diese Gefühle, die Eltern kranker Kinder erleben nie verstehen können. Doch ich habe großen Respekt davor, wie sie es doch meistern.
Du hast nur dieses eine Leben, also stecke nicht immer alles zurück. Äußere auch deine Wünsche und Bedürfnisse, denn du hast ein Recht darauf, dein Leben selbst zu leben. Und du hast auch nur dieses eine Leben. Unsere Eltern können nicht alles gleichzeitig, aber dein Leben soll nicht pausieren, nur weil meines gerade viel Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.
Unsere Mama sagte eins: „Wenn mehr gesunde Kinder im Haus sind, dann ist auch mehr Leben in der Bude.“ Und da stimme ich ihr absolut zu. Es ist schön Geschwister zu haben, damit der normale Familien-Wahnsinn der Krankheit ein bisschen die Schwere nimmt. Es geht nicht darum dass ich andere animieren möchte, möglichst viele Kinder zu bekommen. Und genau so weiß ich, dass meine Erkrankung an einem Punkt einfach „Normal“ geworden ist. Doch so ist es auch, dass mit dieser Krankheit auch schwere Themen mit einziehen. Themen, die schwierig sind zu besprechen, die wehtun und die immer dabei sind. Und so ist es mir wichtig, dass in dieser Familie die positiven Themen die Oberhand gewinnen. Nicht um die schweren Themen zu überschatten, denn auch diese brauchen ihren Platz, aber damit es sich etwas leichter leben lässt.
3. Das Band zwischen euch und mir
Ich glaube die Beziehung zwischen Euch und mir ist abhängig davon, wie viel oder wie wenig ihr von meiner Krankheit miterlebt. Ein jüngeres Geschwisterkind kennt ein Leben ohne die Krankheit des anderen nicht, ein älteres schon. Aber ein älteres Geschwisterkind wird vielleicht bereits viel mehr verstehen, wenn es um Krankenhausaufenthalte und Prozeduren geht. Wahrscheinlich hängt die Beziehung zwischen euch und mir immer davon ab, wie und wie viel oder wenig ihr von den Stresssituationen mitbekommen habt.
Und manchmal sehe ich, wie ihr die Welt bereist, euren Träumen nachjagt und ich immer wieder durch meine Krankheit ausgebremst werde. Ich schaue euch an, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Weil ich euch es wünsche, dass ihr euch realisiert, dass ihr euer Leben führt, unabhängig von meiner Krankheit, die euch schon oft genug festgehalten hat. Doch ich kann nicht verneinen, dass ich nicht manchmal doch neidisch bin. Dafür dass das Paket „Gesundheit“ in euren Leben kein Sorgenpäckchen ist und dafür, dass ihr eure Pläne, euren Beruf, eure Hobbies und beinahe jeden Moment in eurem Leben nicht von eurer Gesundheit abhängig machen müsst.
Ich danke Euch, dass ihr gewisse Erlebnisse mit mir erleben wollt, denn wir wissen alle, dass ihr noch so viel mehr erleben könnt wie ich und so viel Zeit habt. Ich habe großen Respekt, dass ihr eure Bedürfnisse immer wieder zurück steckt und Zeit mit mir dem vorzieht. Aber ich bitte Euch, euer Leben nicht von mir abhängig zu machen!
Es tut mir leid, dass ihr euch so früh mit so großen Themen wie Sterben auseinander setzen musstest. Doch dadurch danke ich euch, dass ihr Zeit anders einschätzt. Dass ihr mehr im Moment lebt und das Beste aus der Zeit macht, die ihr habt.
Ich danke euch, dass ihr mich in meiner Art zu leben unterstützt, auch wenn es nicht eure ist. Denn ihr versteht Glücklich-Sein als eines der höchsten Güter und so schätze ich es sehr, dass ihr mich in meiner Suche nach meinem Glück unterstützt und ich versuche euch mit derselben Güte zu begegnen. Und ich weiß, dass wir es schon durch so viele Höhen und Tiefen geschafft haben. Egal was kommen mag, das schaffen wir auch!
4. Worüber ihr nicht sprecht
- Ihr müsst kein schlechtes Gewissen haben, wenn ihr auf Reisen geht, auf Festivals oder auf Partys. Ich möchte dass ihr glücklich seid und euer Leben in einer absoluten Fülle lebt. Ja manchmal bin ich neidisch und manchmal tut es weh, nicht die Dinge machen zu können, die ihr könnt. Aber das soll euch nicht davon abhalten, all diese Erfahrungen trotzdem zu machen. Macht Videos, schickt mir Fotos und sendet mir Postkarten von all diesen Orten, denn ihr erlebt all diese Dinge für euch und ein bisschen für mich mit.
5. Was ihr anderen Geschwisterkindern wünscht:
- Seid offen über eure Gefühle, nicht nur euren Eltern gegenüber, sondern auch eurem kranken Geschwisterchen. Denn ihr alle fühlt eine Menge und wenn Gefühle wie Angst oder Scham unausgesprochen in der Luft hängen bleiben, dann kann das eurer Beziehung schaden. Denn auch das kranke Kind macht sich Gedanken über euch. Es will euch nicht immer zur Last fallen und es will sich nicht schuldig fühlen, dafür dass ihr an der einen oder anderen Stelle zurückstecken musstet. Durch Kommunikation könnt ihr euch gegenseitig unterstützen und schädigende Coping-Mechanismen vermeiden.
- Behalte einen optimistischen Blick auf dein Leben. Tu alles was du möchtest. Nimm Rücksicht auf deine Lieben, aber lass dich nicht abhalten. Du bist verantwortlich für dein Leben und dafür selbst glücklich zu werden. Du kannst dich nicht selbst verwirklichen, wenn du dich immer nach der Krankheit deines Geschwisterchens richtest.
- Habe keine Schuldgefühle, wenn du etwas machst, was dein krankes Geschwisterchen nicht kann. Es ist dein Leben. Du lebst es für dich und später kannst du allen – und vor allem deinem kranken Geschwisterchen – von deinen Erfahrungen erzählen.
- Du bist nicht falsch, nur weil deine Mitschüler dich nicht immer verstehen. Du musstest schneller erwachsen werden und das ist eine verdammt große Leistung. Das was du erlebt hast, macht dich nur zu einem stärkeren Menschen.
- Lerne das Leben und die Schönheit, die darin verborgen ist, zu schätzen. Geh auf das Konzert, bereise das Land, geh auf die Party.
- Alle Fähigkeiten und Charakterzüge, die du als “Geschwisterkind” erlernst, sind wertvoll und helfen deiner persönlichen Entwicklung. Natürlich ist es nicht immer leicht, so früh mit Themen wie Behinderung, Krankheit und Tod konfrontiert zu werden. Aber dadurch lernst du auch Toleranz, Verantwortung und Dankbarkeit ganz anders und vielleicht auch besser als jeder andere.
6. Was ich anderen Herzeltern ans Herz legen möchte:
- Nehmt euch manchmal eine Auszeit nur für Eure gesunden Kinder. Sie stecken so viel ein, müssen so oft stark sein, verantwortungsvoll handeln und zurückstecken. Auch sie haben Bedürfnisse, wollen einfach mal Kind sein. Vielleicht schafft ihr es ja regelmäßig eine besondere Zeit nur mit ihnen zu schaffen, wo sie Eure volle Aufmerksamkeit bekommen. Denn sie sind keine Schattenkinder. Sie sind Kinder des Lichtes und wollen als solches wahrgenommen werden.
- Manchmal reagieren Geschwisterkinder widersprüchlich oder missverständlich – sie ziehen sich zurück, reagieren nicht mehr oder reagieren mit Aggression. Es ist für sie nicht leicht, immer zu verstehen, warum etwas so ist, wie es ist. Warum es schon wieder zu den Großeltern muss während, das andere Geschwisterkind bei den Eltern bleiben kann. Warum man schon wieder so viel Warten muss. Warum es schon wieder ins Krankenhaus geht oder warum das Geschwisterkind schon wieder die ganze Aufmerksamkeit bekommt. Es ist nicht die Schuld des Geschwisterkindes, warum es manchmal so reagiert. Manchmal kann es die Situation einfach nicht verstehen. Deshalb finde ich es umso wichtiger dem Geschwisterkind immer zu erklären, warum etwas wie geschieht. Natürlich in einem Rahmen, dass das Kind es auch versteht. Ein zweijähriges Kind kann Details zu einer Operation am offenen Herzen wahrscheinlich nicht so gut verarbeiten wie ein 14-jähriges Kind. Also auch hier: Communication is key! Sprecht über das was passiert, fragt nach, wie es dem Geschwisterkind geht und was seine Bedürfnisse sind. Vielleicht findet ihr Lösungen und Kompromisse.
- Gebt den Geschwisterkindern die Möglichkeit, im Rahmen des Möglichen und je nachdem ob das Geschwisterkind das möchte, die Krankenhausprozesse und Arztbesuche miterleben. Der Herzfehler des Herzkindes ist auch ein Teil der Biografie des Geschwisterkindes. Gebt ihm die Möglichkeit, die Rolle des Herzfehlers für sich selbst zu definieren. Natürlich ist der Herzfehler des Bruders oder der Schwester nicht das Wichtigste im Leben des Geschwisterchens selbst, aber ein Teil davon. Also versteckt es nicht und tut nicht so, als wäre nichts. Wenn möglich, lasst das Geschwisterchen das Herzkind im Krankenhaus besuchen, miteinander spielen. Die Beziehung zwischen dem Geschwisterkind und dem Herzkind sollten sie selbst definieren können. Selbst entscheiden, wie viel Raum sie dem Thema Herzfehler geben wollen und nicht in die vorgefertigten Rollen „krankes Kind“ und „gesundes Kind“ gepresst werden.
- Es ist sehr schwer, dem Geschwisterkind gerecht zu werden und für es da zu sein, wenn man als Elternteil ständig ins Krankenhaus muss und das Geschwisterkind nicht immer mitnehmen kann. Es wäre toll, wenn die Anzahl der Betreuunngspersonen des Geschwisterkindes nicht zu groß und die Personen möglichst konstant für das Geschwisterkind da sein können. Auch das Geschwisterkind hat vielleicht Sorgen oder Ängste und daher ist es umso wichtiger, dass es sich gut aufgehoben fühlt, wenn es nicht bei den Eltern sein kann. Familie und Vertrauenspersonen sind so wichtig für das Kind.
- Versucht dem Geschwisterkind möglichst einen Alltag zu schaffen.
Fazit
Egal wie viel man doch erlebt, wäre das Leben ohne ein krankes Geschwisterkind ein anderes. Und auch wenn man viele negative Dinge sehr früh lernen muss, lernt man auch viele positive Dinge, ganz anders zu schätzen und viele Dinge, die manch anderer nie lernt: das Verhältnis von Zeit, Dankbarkeit, Achtsamkeit, die Kunst Teilens (Momente, Gegenstände, …), Toleranz, Empathie. Das Wertesystem eines Geschwisterkindes ist viel komplexer – und ist das nicht wunderschön?
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